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Прокладывая путь через неразбериху родственных отношений – предварительные замечания к системе обращений в средневековой Северной Германии и её отражении в литературе того времени на примере средненижненемецкого животного эпоста«Рейнке лис»

Автор: Цапаева Сабина Юрьевна, дипломированный лингвист-переводчик, докторант Университета г. Росток, Германия
Статья подготовлена для публикации в сборнике «Актуальные вопросы переводоведения и практики перевода».

 

Исследование посвящено изучению немецкого животного эпоса XVI века «Рейнке лис», который считается образцом письменного языка Северной Германии того времени. В данной статье рассматривается неоднородная система обращений в средненижненемецком языке. Акцент делается на прономинальные обращения единственного числа: уважительное дистантное „gy“ (ihr) и доверительное „du“. В этой связи называются возможные факторы прагматического характера, влияющие на выбор или смену местоимения, объясняются социолингвистические причины употребления той или иной формы. Помимо этого внимание уделяется субстантивным обращениям, отражающим различную степень родства. Предпринимается попытка систематизации встречающихся в тексте обращений.

 

EIN PFAD IM MAGENSCHAFTSDURCHEINANDER – VORLÄUFIGE BEMERKUNGEN ZU DEN ANREDEFORMEN IM MITTELALTERLICHEN NORDDEUTSCHLAND UND IHRER WIDERSPIEGELUNG IN DER ZEITGEMÄSSEN LITERATUR AM BEISPIEL DES MITTELNIEDERDEUTSCHEN TIEREPOS „REYNKE VOSZ DE OLDE“

Duzen oder Siezen, Erzen oder Ihrzen. Wie war das noch mal im Mittelalter? Das gegenwärtige deutsche Anredepronomensystem kennt nur noch drei Möglichkeiten: das vertraute ,du’ für die Personen aus dem engsten Familien- und Freundeskreis, das an sich mehr oder weniger neutrale ,ihr’ als Pluralform von ,du’ und das distanzierte ,Sie’ als Höflichkeitsform (ausnahmsweise auch das durch Sonderbedingungen zustande gekommene sog. ,Krankenschwestern-wir’ [3, S. 13]). Wie es z.B. im 16. Jahrhundert gewesen ist, können uns in erster Linie die mittelalterlichen literarischen Werke verraten. Ich habe mich entschieden, die Anredeformen im wohl bekanntesten mittelniederdeutschen Tierepos „Reynke vosz de olde“ [1] näher zu betrachten, und zwar nicht nur die pronominalen, sondern auch die verwandtschaftsbezogenen als Unterart der nominalen Formen.

Zunächst soll die Wahl des Untersuchungsgegenstandes geklärt werden. Beim 1539er Rostocker „Reynke vosz de olde“ handelt es sich um ein mittelniederdeutsches Tierepos, offensichtlich um einen „Bestseller“ seiner Zeit, wenn man sich der heutigen Popularitätsskala bedienen möchte. Der Rostocker Text ist jedoch kein Original, er basiert auf einem älteren niederdeutschen Text, dieser wiederum auf einer niederländischen Vorlage des 15. Jahrhunderts. Rostocker „Reynke vosz de olde“ ist also ein Nachdruck, mehr noch, eine Überarbeitung der Lübecker Inkunabel aus dem Jahr 1498 [4], die sich vor allem durch die sog. protestantische Glosse kennzeichnet. Der angesprochene Rostocker Druck hat außerdem eine lange und erfolgreiche Rezeptionsgeschichte sowohl im niederdeutschen, als auch im hochdeutschen Raum erfahren. Aus diesen Gründen halte ich die Rostocker Reynke-Fuchs-Ausgabe für durchaus repräsentativ für die mittelniederdeutsche Sprache im 16. Jahrhundert und daher geeignet für eine sprachliche Analyse, im vorliegenden Fall die des Allokutionssystems im norddeutschen Areal. Eine umfassende Darstellung der graphematischen Seite dieser Frage würde freilich den Rahmen dieses Beitrages sprengen, deswegen müssen Kommentare bezüglich der Orthographie der Anredeformen komplett ausgelassen werden.

In diesem Beitrag soll versucht werden das Wissen über die mittelalterlichen Anredeformen zusammenzutragen und ein mehr oder weniger einheitliches Bild von diesen unter Zuhilfenahme vom gewählten literarischen Kontext zu machen. Diese vorläufigen Bemerkungen sollen als Vorstufe für eine umfangreichere Arbeit gesehen werden, die der bebilderten Verserzählung vom listigen Fuchs gewidmet und momentan in der ersten Phase der Ausarbeitung ist. Es wird kein Versuch unternommen das Umgangsformensystem diachron zu betrachten oder einen systematischen Vergleich mit dem heutigen Deutschen vorzunehmen. Die Arbeit bleibt somit im Rahmen einer synchronen Untersuchung und beleuchtet die soziolinguistischen und pragmatischen Fragestellungen der Anredeformen des Rostocker Mittelniederdeutschen. Als Erstes sollen die pronominalen Anredeformen studiert werden, im Anschluss die nominalen.

Im Rostocker Druck findet man zwei Personalpronomen, die als Anrede fungieren: das ,du’ und das ,ihr’. Diese sind im Text offensichtlich komplementär verteilt, was eindeutig davon zeugt, dass sie auch im Paradigma einander gegenüber stehen werden, und zwar nicht ausschließlich als Singular-Plural-Dichotomie, obwohl die höfliche Anrede ihren Ursprung offensichtlich in der 2. Person Plural findet. Wollen wir im Einzelnen verfolgen, in welchen Fällen das ,du’ und wann das ,ihr’ zustande kommt. Dafür muss eine Vorbemerkung den narrativen Kontext betreffend gemacht werden, um einen gerafften Überblick über die literarische Ausgangssituation zu geben. Beim „Reynke Vosz de olde“ handelt es sich um einen Text, der im Großen und Ganzen als extensiver Gerichtsprozess verstanden werden kann. An einem Pfingstag sind alle Tiere und Vögel beim König zum Hoftag eingeladen, alle außer Reynke, weil er vielen über den Weg gelaufen ist. Es kommt zu keinen Feierlichkeiten, weil die Eingeladenen anfangen den Fuchs in seiner Abwesenheit anzuklagen. Dem König Nobel, dem Löwen, bleibt nichts Anderes übrig als das Gerichtsverfahren gegen den Dieb und Mörder einzuleiten. Der Fuchs wird zum Hof zitiert, was zu neuen Verbrechen und Rechtsbrüchen seitens Reynke führt. Der unverbesserliche Missetäter lügt, redet sich mehrmals aus, und zum Schluss gelingt es ihm endgültig in des Königs Gunst einzuschleichen und sogar Kanzler zu werden.

Durch die literarisch-unterhaltsame Weise wird das belehrende Vorhaben des Dichters sichtbar, anhand der zusammengeführten kommentierten Fabeln die damalige Gesellschaft mit ihren Unzulänglichkeiten widerzuspiegeln und somit ihrer Besserung dieser beizutragen. Da diese Verserzählung als sozialer Spiegel gedacht ist, finden sich in ihm die Reflexionen aller vier Stände des Mittelalters im Text: des der Bauern (dargestellt durch Pferde, Esel, Ochsen und dgl.), des der Bürger und der Kaufleute (Eichhörnchen, Hamster, Kaninchen, Hasen etc.), des der Geistlichen (Dachs) und des des Adels (Wölfe, Bären, Luchse, Leoparden, ferner Füchse, Affen, Hunde) [1, Bl. III v – VIII r]. Viele Tiere sind miteinander verwandt (ausführlicher zu den Verwandtschaftsgraden im zweiten Teil des Beitrags). An dieser Stelle darf ad interim unterstrichen werden, dass „[d]as vertikale Lehnsverhältnis und die horizontale Verwandtschaft [sich] als zentrale Orientierungspunkte für das politische und soziale Handeln des Adels [erweisen]“ [5, S. 59]. In erster Linie geht es im 1539er Text genau um die Fürsten, Bannerherren und Herren der Welt und deren Verhalten, das von der sozialen und pragmatischen Ebene direkt in den analysierten sprachlichen Gebrauch eindringt. Um einen Bogen zu den pronominalen Anredeformen zu schlagen, kann man präliminar behaupten, dass die gesellschaftlichen Beziehungen jener Zeit im Text relevant sind: im differenzierten Repertoire an Formen erkennt man auf den ersten Blick den Unterschied zwischen der höflichen und der vertraulichen ggf. respektlosen Anrede.

Fangen wir mit der Oberschicht, id est mit dem König, an. Der Löwe wird ohne Ausnahmen respektvoll von allen Tieren geihrzt, wie u.a. im folgenden Beispiel, vom Wolf Isegrim angesprochen: „Hochgebaren Koninck / gnedyge here. Dorch juwe eddelicheit vnd eere. Beide dorch recht / vnd jn gnaden / Entbarmet juw des groten schaden“ [1, Bl. XII v], weiter vom Kater Hinze „He vruchtet Reynken mehr dan juw“ [1, Bl. XIII r] und dem Hahn Henning „Dar hangede juwe Segel nedden an / Dar vant ick jn geschreuen stan“ [1, Bl. XXI r]. Reynke richtet sich ebenfalls an die Königin dementsprechend mit dem Honorativ: „Myn leue frouwe. In deme / dat my de Koninck nu / Dyt vast lauen wyl vor juw“ [1, Bl. XCV v]. Mittels der angeführten Beispiele wird sichtbar, dass es vorausgesetzt ist, dass das königliche Paar als oberste Instanz wahrgenommen und aus diesem Grund mit dem Respekt ausdrückenden Pronomen „ihr“ angesprochen wird.

Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, wird im Text das Hofleben exemplifiziert. Die Ankläger gehören zum Stand der Adeligen, bei denen es sich eingewurzelt hat, das „ihr“ gegen Höhergestellte, Gleichgestellte und sogar adelige Untertanen, wenn es  e.g. den König betrifft, zu verwenden. So wendet sich Reynke u.a. an den Bären in der Honigszene folgenderweise: „[H]oret my Bruen myn oem / Rechte hyr in dessem suluen boem. Js Honninges mer / wan gy gelouet / Steket daryn wol depe / juwe houet“ [1, Bl. XXXII r], fürder an den Wolf in der Szene mit der Stute: „Synt gy van dem Valen ock sat? Wor vmme geue gy my nicht ock wat? Wente ick juw doch de bodeschop dede / Hebbe gy vp juwe maltydt geslapen rede?“ [1, Bl. CXLVII r]. Der König sendet den Kater Hinze zu Reynke im 12. Kapitel des ersten Buches mit folgenden Worten: „Mercket dyt recht / Wat desse Heren hebben gesecht. Gaet hen: vnd segget Reynken also / Desse Heren alle / beden em tho“ [1, Bl. XLI r]. Bereits aus diesen repräsentativen Beispielen wird sichtbar, dass adelige Herren im Umgang miteinander das Honorativ wählen; diese Regel wird im Werk weitgehend eingehalten.

Eine Ausnahme im Bereich der pronominalen Anredeformen bildet die Anrede des Protagonisten Reynke Fuchs. Hier teilen sich die Tiere in zwei Gruppen: Die Einen ihrzen Reynke kontinuierlich, während die Anderen die Pronomen je nach der pragmatischen Situation wählen. Da sich die Motivation der einen oder anderen Anrede in jedem Fall verschieden ist, muss das gesondert aufgearbeitet werden. In der Regel wird Reynke von denen, die es gut mit ihm meinen, respektvoll angesprochen: Darunter sind zu nennen Martin der Affe, die Äffin Frau Rukenaue, der Otter, sowie Reynkes Frau Armeline die Füchsin, diese sind mit Reynke auch verwandt. Nur der Dachs, ständiger Mitkämpfer Reynkes, sein Vormund und Beichtvater, wechselt gelegentlich zwischen dem intimativen „du“ und dem etwas Abstand bewahrenden „ihr“: „Reynke ohem / ick bede juw mynen groth / Gy synth jo gelert / ock wyß vnd vroet. My wundert / dat gy dat holden vor spoth / Vnd achten nicht des Koninges geboth?“ [1, Bl. LII r] vs. „Och Reinke Ohem / nu wilt sick maken. Du bist dat Houet / van vnsem geslechte / Wy mogen dy wol beklagen mit rechten. Wente wenn du plegest vor uns tho spreken / So konde vns nichtes entbreken“ [1, Bl. CXXXIX r]. Das mag folgende Gründe haben: Der Dachs und der Fuchs sind nicht nur verwandt, sondern auch eng befreundet. Dies äußert Reynke im 16. Kapitel des ersten Buches: „[H]oret my / ohem vnd frundt. Grimbart / myn alder leueste Neue […]“ [1, Bl. LVII r]. Da Reynke als Sippenoberhaupt anerkannt wird, muss er als Ältester geihrzt werden. Andererseits vertritt der Dachs im Text den Stand der Geistlichen, deswegen beichtet ja auch Reynke manche seiner Sünden dem Dachs, was dem Letzteren die „du“-Anrede zum Herdenmitglied so zu sagen erlaubt. Zum Dritten ist der Fuchs seinem Verwandten Grimbart mehr oder weniger unter Kuratel gestellt (der Dachs verteidigt Reynke vor dem König mehrmals). Für uns heißt das nichts Anderes, als dass es eine Art Wechselbeziehung zwischen dem Fuchs und dem Dachs besteht, in welcher unklar zu sein scheint, wer von den beiden die führende Position hat.

Abgesehen von Grimbarts kurzfristigem „du–ihr“-Wechsel, tritt der Mischstil innerhalb noch dreier Sender-Empfänger-Dyaden auf. Zum Ersten ist es der erfolglose Rivale Reynkes Wolf Isegrim, der im Verlauf des Prozesses und v.a. des Kampfes die Anredeform „du“ benutzt: „O du valsche Voß / Wo gerne werestu wedder van my loß“ [1, Bl. CCLI r]. Aus den Wiedergaben der vorigen Ereignisse geht jedoch hervor, dass der Wolf den Fuchs genauso mehrmals mit „ihr“ angesprochen haben muss: „Reynke Ohem / Hyr wyl ick beyden vnder dem Boem. Gy synt bequemer dartho / wen ick / Seeth / sus wolde he my wysen jnt stryck“ [S. 1, Bl. CCXXXIII v]. Dasselbe gilt ferner für den Bären: „[O] Reynke du valsche creatur“ [1, Bl. XXXVI r] vs. „Wanne wanne / wat hebbe ick nu gehort? Holde gy dat Honnich so sere vnwert?“ [1, Bl. XXX r] und für den Löwen: „[H]ore my tho recht. Du vntruwe / lose / bose deff / Wat was ydt / dat dy dar tho dreff?“ [1, Bl. CLXXIX v] vs. „[S]wyget Reinke / latet aff / Juwe smekent / helpet nicht ein kaff. Juwe vndadt / wert juw nu vorgolden / Wo gy den frede hebben geholden“ [1, Bl. LXIX v]. Diese aufschlussreichen Beispiele lassen sich auf folgende Weise interpretieren: Solange Reynke als Freund ggf. treuer Untertan wahrgenommen wird, wird er geihrzt wie jeder andere angesehene Mann. Wo das Vertrauen endet, wird ein deutlich abgrenzbarer Übergang zum respektlosen Pol der Anrededichotomie vollzogen: Im Moment des Zornes greift der aufgeregte Sprecher bewusst zur unhöflichen Variante [3, S. 96-106]. Hier lässt sich die pragmatische Seite des Angesprochenwerdens am besten ermitteln. Mit dem Pronomenwechsel wird die veränderte Haltung demonstriert. Die demütigende „du“-Anrede senkt den Angesprochenen eine Stufe tiefer in der sozialen Hierarchie v.a. in Anwesenheit von Mithörern. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Sobald das „du“ wieder zu „ihr“ wird, kann die unangenehme Angelegenheit praktisch als geregelt betrachtet werden. Dieser pragmatische Anredepronominalwechsel nimmt meines Erachtens eine unterstützende Rolle für das Gesamtverständnis des Textes ein.

In diesem Beitrag wird nicht extra behandelt, bei welchen Tieren und in welchem Zusammenhang das honorative Pronomen „ihr“ kleingeschrieben wird und wann es mit einer Majuskel eingeleitet wird. Es reicht zu bemerken, dass keine eindeutige Tendenz oder Gesetzmäßigkeit betr. der Schreibung festgestellt werden konnte. Zu dem Zeitpunkt, als „Reynke vos“ entstanden ist und im 16. Jahrhundert weitertradiert wurde, gab es noch keine strikten Groß- und Kleinschreibungsregelungen. Das betrifft im Übrigen nicht nur die Anredeformen, sondern die graphematische Gestaltung der mittelniederdeutschen Texte überhaupt.

An dieser Stelle möchte ich zum zweiten Punkt übergehen – zu den nominalen Anredeformen mit Verwandtschaftsbezug. Im 1539er Druck konnten folgende Magenschaftsbenennungen als Anredevarianten ausfindig gemacht werden: systematisch „ohm“ und reimbedingt „pape“ für Oheim, „neue“ für Neffen, „pade“ für Paten als Bezeichnung des Verhältnisses vom Fuchs zu Isegrims Kindern [1, Bl. XLVII] und „medder“ für Muhme („Frau / Weib“ kann nicht als verwandtschaftsbezogene Anrede betrachtet werden, weil es sich nicht um eine Blutsverwandtschaft handelt). Ich halte es für durchaus logisch zunächst die vorgegebenen Affinitäten rund um den Fuchs aufzunehmen, weil in diesem Fall praktisch alle Tiere auf einmal einbezogen werden. Vorweg muss gesagt werden, dass nicht alle textuell aufgefassten Verwandtschaftskonstellationen durch Tierverwandtschaften, Verschwägerungen und Verflechtungen durch Ehe erklärt werden können, weil an mehreren Stellen vorgespielte Ansippungsversuche stattfinden oder nur geistige Verwandtschaft durch Institut der Patenschaft eintritt [2, S. 29-31]. Darüber hinaus muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Verwandtschaftsbezeichung bekanntlich als Höflichkeitsform und Eigennamenzusatz fungiert. Dieserart nennt Reynke den Affen Martin seinen Onkel und die Äffin seine Muhme (Tante) mütterlicherseits, den Otter zählt er auch zu seinen Verwandten, eine Blutsverbindung zum Geschlecht der Meerkatzen verneint er jedoch. Der Fuchs entlarvt seine Worte betr. der letzten einmal ausgesprochenen engen Verwandtschaft als Notlüge: „Meerkatten synt nicht myne Medderen. Frouwe Rukenouwe / vnd Marten de Ape / Desse ys myn Medder / vnd he myn Pape […] Men dat ick de Meerkatte do Medder heeth / Ja / dat dede ick all vmme geneeth“ [1, Bl. CCXXXIII r]. Das Anredeverhalten der verwandten Figuren des Fuchses und des Dachses variiert, wobei eine enge magenschaftliche Verbundenheit zweifellos vorhanden ist. So Reynke zum Dachs: „Leue Ohem / wille gy ock by my stan? Alse ein Ohem dem andern doet?“ [1, Bl. CXL r] vs. „Grimbart / myn alder leueste Neue“ [1, Bl. LVII r], ferner Grimbart zu Reynke mit Höflichkeitsform: „[O]hem nu seeth. Dat gy juw betern mit guden wercken“ [1, Bl. LXII v]. Für ein verwandtschaftliches Verhältnis zwischen den beiden Tieren spricht u.a. die Tatsache, dass der Dachs als ältester im Gericht anwesender Verwandte die Vormundschaft für Reynke übernimmt (die sog. Sippenverpflichtung). Zusammenführend aus den vorgenannten Belegen ist zu merken, dass die beiden Bezeichnungen „ohm“ und „neue“ selbst bei Verwandten nicht konsequent auseinander gehalten werden. Dies mag natürlich rein aus Versehen geschehen sein. Andererseits, und hier erlaube ich mir eine vorsichtige Vermutung, konnten männliche Sippenangehörige im Mittelalter sowohl als Neffe (ungeachtet des eigentlichen Verwandtschaftsgrades), als auch als Oheim (als eine mehr konkrete Verwandtschaftsbezeichnung) betitelt werden konnten. Festzuhalten bleibt, dass im 1539er „Reynke Vosz“ die Verwandtschaftsgrade nicht ausführlich genug ausgearbeitet sind, sodass eine eindeutige Rekonstruktion des Stammbaumes ohne Einbeziehen der Textvorlagen unmöglich zu sein scheint.

Mit den vorgespielten Verwandtschaftsbeziehungen haben wir nicht ausschließlich in der Szene mit der Meerkatze zu tun, sondern und v.a. im Gegnerpaarverhältnis Reynke – Isegrim. Reynke bezeichnet seinen ewigen Rivalen durchgehend höflich und zuvorkommend als Oheim, um seine Besonnenheit und Wachsamkeit ins Wanken zu bringen und sich dann in voller Niederträchtigkeit und Bosheit zu zeigen: „He ys nicht myn ohem / wol hete ick en so / He horet my altes nichtes tho“ [1, Bl. LIX r].  Das gehört zu Reynkes gemeinem Wesen, die nichts ahnenden Tiere (u.a. den Kater, Hasen, Ziegenbock, Hahn) zu betrügen und diese nach seinem Ermessen zu benutzen, wobei er die „Methode“ der Verwandtschafts- und Höflichkeitstäuschung immer wieder anwendet und sich entweder als Muttersbruder oder Neffe ausgibt. Verallgemeinert kann überdies als geltend angesehen werden, dass ältere und adligere, aber auch größere und stärkere Tiere von kleineren mit „ohm“ angesprochen werden, so wie der nicht hochgeborene und vornehme Bär: „Bruen / leue Ohem / wilkame mote gy wesen“ [1, Bl. XXIX r].

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass gemäß dem „Reynke Vosz de olde“-Text das mittelniederdeutsche Anredepronominalparadigma eindeutig eine Dichotomie darstellt, in der das intimative „du“ dem honorativen „ihr“ gegenübergestellt wird. Als primäre Funktion der „ihr“-Anrede sieht man die sprachliche Strategie dem Adressanten Respekt und Höflichkeit zu signalisieren. Der Anredepronomenwechsel deutet auf einen pragmatischen Übergang beim Gesichtsverlust als Demütigungssignal oder vice versa beim Wiedererlangen des guten Rufes als positives Zeichen. Diese Funktionen können mit hohem Grad von Bestimmtheit ohne jegliche Anpassungen auf die mittelniederdeutschen Umgangsformen des 16. Jahrhunderts übertragen werden, denn zu dem Zeitpunkt kannte das mittelniederdeutsche Sprachsystem offensichtlich keine anderen Anredepronomen. Es scheint relevant zu sein im Rahmen einer umfangreicheren Anredepronomenarbeit diese Vermutung detailliert zu erforschen und mit Beispielen aus den Schriftzeugnissen andere Textsorten oder aus anderen Regionen nachzuweisen oder eine diachrone Analyse der Kategorie Anredepronomina durchzuführen.

Das nominale Anredeninventar bietet nur bedingt etwas mehr Variationen. Der nicht konsequent durchgezogenen Oheim-Neffe-Dichotomie im männlichen Bereich wird der relativ einheitliche Muhme-Begriff  im weiblichen entgegengehalten. Im Lichte der wahren und vorgespielten Sippenbindungen soll das verwandtschaftsbezogene Anredenset immer im näheren Kontext betrachtet und untersucht werden zwecks möglicher pragmatischen Diskrepanz oder Kollision der tatsächlichen Absicht und des Gesagten. Im sprachgeschichtlichen Zusammenhang soll die behandelte Anredenauswahl als Vorstufe für eine grundlegende Anredenzusammenstellung mit Bezug auf Verwandtschaftsgrade und –beziehungen im Mittelalter verstanden und dementsprechend ergründet werden.

 

СПИСОК ЛИТЕРАТУРЫ

1. Reynke Vosz de olde, nyge gedrucket, mit sidlikem vorstande vnd schonen figuren, erluchtet vnd vorbetert. Rostock 1539.

2. Ruberg, Uwe: Verwandtschaftsthematik in den Tierdichtungen um Wolf und Fuchs vom Mittelalter bis zur Aufklärungszeit. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Bd. 110. Tübingen 1988. S. 26-62.

3. Simon, Horst J.: Für eine grammatische Kategorie >Respekt< im Deutschen. Synchronie, Diachronie und Typologie der deutschen Anredepronomina. Tübingen 2003 (= Linguistische Arbeiten. 474).

4. Sodmann, Timothy: Reynke de vos, Lübeck 1498. Faksimile der Wolfenbütteler Inkunabel. Hamburg 1976.

5. Spieß, Karl-Heinz: Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter. Idstein 2002 (= Historisches Seminar N.F. 13).